Der Mittelformat-Würfel aus Kiew · Teil 2

Von Marwan El-Mozayen
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Teil 1

Die Wendejahre

Die Kiev 88 ist sicher die Kamera, die heute am häufigsten auf dem Gebrauchtmarkt zu finden ist. Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks änderte sich die Vertriebssituation plötzlich schlagartig. Fliegende Händler auf Flohmärkten bot plötzlich eine Vielzahl von Kameras aus unklarer Herkunft für Beträge um 200 bis 300 DM an.

In den wirtschaftlichen Wirren der späten 80er und frühen 90er Jahre versuchten sich viele Mitarbeiter von Arsenal Kiev, mit dem Montieren von Kameras aus veruntreuten Ersatzteilen ein kleines Zubrot zu verdienen. Diese in illegaler Heimarbeit entstandenen Kameras fluteten in der Folge die Märkte. Die Distributoren, die sich bis dahin um den Verkauf, Service und Wartung kümmerten, konnten dem wirtschaftlichen Druck nicht lange standhalten und mussten ihren Vertrieb einstellen.

Russisches Roulette

Finanzielle Schwierigkeiten des Herstellers sowie schlechtes Material taten ihr Übriges, um den Ruf der Produkte aus Kiev nachhaltig zu schädigen. Die Nachfrage nach einer preisgünstigen 6×6-Kamera mit Wechselmagazin war aber auch Mitte der 90er Jahre so groß, dass der Hersteller Arsenal Kiev einen Neuanfang wagte. Dabei wurde die Konstruktion der Kiev 88 grundlegend überarbeitet.

KIEV 88 CM

Mit der 1999 vorgestellten Kiev 88 CM wurde das Grundkonzept der Saljut-S zum ersten Mal grundlegend in nahezu allen entscheidenden Baugruppen überarbeitet. Besonders hervorzuheben ist die massive Verstärkung der Grundplatine. Der Kupfer-Beryllium-Verschluss wurde durch einen schwarzen Tuchschlitzverschluss ersetzt. Diese Veränderung erforderte ein neu dimensioniertes Hemmwerk sowie eine Überarbeitung von Spann- und Transportmechanismus. Das Transportrad wurde zusätzlich mit einer einklappbaren Kurbel ausgestattet. Der Sucher erhielt eine besonders helle Mattscheibe mit einem Schnittbildkeil. Um Kontrastminderungen durch Reflexionen im Spiegelkasten zu minimieren, wurden die Innenflächen mit schwarzem Samt ausgekleidet. Das alte Steckbajonett wich einem Pentacon Six Anschluss. Alte Kiev88-Objektive können mit einem speziellen Adapter auch weiterhin mit Blendenfunktion verwendet werden. Ab diesem Modell können alle Objektive von Pentacon, Carl Zeiss Jena, Schneider Kreuznach sowie der Kiev60 und viele weitere angesetzt werden. Der Auslöseknopf wanderte an die rechte Gehäuseseite. Als Option wurde ab Werk eine Spiegelvoraussauslösung angeboten.

Dame mit Auto
Aufnahme mit einer Kiev88 CM und einem Carl Zeiss Jena MC Sonnar 2,8/180mm

Das NT-Magazin

Die Magazine wurden im Rahmen der Einführung der Kiev88 CM komplett neu entwickelt. Sie passten ebenfalls an die früheren Kameras. Das sogenannte NT-Magazin für 6×6 oder 6×4,5 ist erheblich leichter zu beladen. Die Bildabstände sind bei dieser Magazin-Generation nicht mehr vom verwendeten Film abhängig. Für eine praktische Handhabung beim Fotografieren lässt sich nun auch der Magazinschieber hinten am Magazin in einen Schlitz einschieben, um Verlust oder Beschädigung zu vermeiden.

Der TTL-Spot Prismensucher

Der TTL-Prismensucher wurde bereits Anfang der 90er Jahre überarbeitet, da die erste Version mit drei LEDs einen besonders hohen Stromverbrauch hatte und für nicht mehr erhältliche Quecksilberzellen ausgelegt war. Für die neue 88CM wurde ein neuer Sucher entwickelt und im Design harmonisch angepasst. Darüber hinaus erhielt dieser neben der Integralmessung eine Spot- Belichtungsfunktion.

Die aktuelle Situation seit 2018

Arsenal Kiev beendete 2009 offiziell die Produktion der Kiev 88CM. Gerade in den frühen 90ern gab es viele Betriebe, die sich mit der Verbesserung von Kiev 88-Modellen beschäftigten. Neben vielen kleinen mechanischen Verbesserungen von Verschluss, Transport und Hemmwerk wurden sogar Umbauten auf das Pentacon-Six-Bajonett angeboten. Firmen wie Wiese Fototechnik aus Hamburg und die Firma Hartblei stellten sogar manufakturähnlich und unter eigenem Namen Kameras her, die auf der Kiev 88 basierten.

Eine besondere Adresse ist die Firma ARAX in der Ukraine. Das Unternehmen hat offensichtlich nach Ende der Produktion einen größeren Bestand an Ersatzteilen und Werkzeugen von Arsenal übernommen. ARAX bietet daher auch heute noch neu hergestellte KIEV 88 CM Modell sowie einige Objektive unter eigenem Namen inklusive einer Garantie für einen sehr günstigen Preis an.

Arax und Kiev88 nebeneinander
Auch heute noch gibt es neu hergestellte KIEV 88 CM Modelle unter dem Namen Arax.

Das Unternehmen nimmt auch ältere Kiev-Kameras zur Reparatur an. Die Preise sind durchweg preisgünstig. Engpässe bei Ersatzteilen gibt es nicht. Dies wird sich auch in den kommenden Jahren nicht ändern.

Wie ist die Qualität der Kiev-Kameras einzuschätzen?

Wer eine Kiev-Kamera oder das Zubehör erwirbt, sollte sich mit der Thematik auf alle Fälle genauer beschäftigen. Von Impulskäufen über das Internet von Privat und ohne Rückgaberecht sollte man generell Abstand nehmen. Es gibt genügend Negativbeispiele von defekten oder dejustierten Kameras.

Bezüglich der Qualität der Kameras haben wir einen niederländischen Techniker befragt, der auch heute noch auf Kameras der Hasselblad-1600F-Bauart spezialisiert ist. In den 90er Jahren war er Servicetechniker für den Arsenal- und Schneider-Kreuznach-Importeur der Niederlande. Für Kiev-Kameras hat er auch Serviceschulungen durch den Hersteller Arsenal erhalten. Diese Kameras kennt er seit Jahrzehnten. Er bat uns, seinen Namen und Adresse nicht zu nennen. Gerne können aber Hilfesuchende über die PhotoKlassik mit ihm Kontakt aufnehmen.

Seiner Aussage nach sind die Kameras bei ordnungsgemäßer Wartung vollkommen problemlos. Das größte Problem sieht er bei Kameras aus unklarer Herkunft. Seit es Ebay gibt, werden defekte Kameras wie ein Wanderpokal von einem glücklosen Käufer zum nächsten verkauft. Er selbst berichtet, dass in seiner Werkstatt in den letzten Jahren mindestens 5–6mal dieselbe Kamera mit wirtschaftlichem Totalschaden zwecks Kostenvoranschlag eingesendet wurde.

Die Kiev88 weist einige technische Besonderheiten auf, die beim Service zu beachten sind. Leider gebe es nicht genügend geschulte Mechaniker, die sich damit ausreichend auskennen. Unerfahrene Feinmechanikerkollegen gäben daher häufig falsche Aussagen bezüglich der Kameras und ihrer Qualität ab. Die richtig problematischen Kameras stammen allzu häufig aus der Zeit zwischen 1990 und 1993. Das Herstellungsjahr lässt sich anhand der ersten beiden Ziffern der Seriennummer einfach bestimmen. Wer eine gute Kamera besitzt, ihre Herkunft aber nicht kennt, sollte der Kamera nach einigen Jahren eine Reinigung und Justage gönnen. Nebenbei gilt dies für jede mechanische Kamera, egal welcher Marke. Dabei lassen sich auch gut der Abnutzungsgrad der Mechanik einschätzen und entsprechende Teile gegebenenfalls tauschen. Dies lässt sich sehr preisgünstig durchführen. Wird eine Kamera längere Zeit nicht genutzt, so seine Empfehlung, sollte das Zeitrad auf 1/2s gestellt und der Verschluss ausgelöst werden. Dies entlastet die Feder des Hemmwerks und wirkt unnötiger Dejustage vor.

Leider sei das Internet seiner Meinung nach voller unsinniger Mythen. In Foren kursierten unzählige falsche Kaufempfehlungen, die jeder Logik widersprechen. Ein solcher absurder Mythos seien die angeblichen Messinggetriebe der Kiev88 gegenüber der Saljut. Das sei blanker Unsinn.

Eine Kaufempfehlung sollte man alleine von dem aktuellen Zustand der Kamera abhängig machen. Eine frühe Saljut kann auch heute noch nach einer Revision einwandfreie Ergebnisse liefern. Eine Kiev 88 CM sowie eine neue ARAX könne man aus guter Quelle immer empfehlen, diese seien aus technischer Sicht am besten konstruiert.

Hier gehts zu Teil 1 · Der Artikel erschien erstmals in der PhotoKlassik IV/2018.