Ich habe schlechte Laune. Warum weiß der Geier. Einen Anlass hat es, soweit ich mich erinnere, nicht gegeben. Ich ziehe mich an, schnappe mir eine Kamera, welche ist mir egal, habe eh nur analoges Fotogerät, und verlasse missmutig das Haus. Fahre ein paar Minuten mit dem Auto und finde mich an der Nordseeküste wieder. Es ist Spätherbst und die Strände sind Touristenlos. Eine kurze Zeit nur, in denen die Küste mal den Anwohnern weitestgehend alleine gehört.
Es ist Hochwasser. Ich rieche das Meer, und höre sein ewiges Rauschen. Ich bleibe stehen, wie so viele Touristen es im Sommer ebenso machen, schaue hinaus aufs Meer und atme tief ein. Eine Wolke, vom Wind verformt, mutiert langsam zu einer riesigen 3. Ich nehme die Kamera hoch, spanne sie, ziele und drücke ab. Mit einer anderen Blende noch einmal. Als ich die Kamera wieder herunter nehme, ist die 3 bereits verwaschen, verweht, verformt. Es war ein Unikat. Wie jede Wolkenformation eines ist.
Langsam schlendere ich am Ufer entlang. Mein Blick wandert nun ziellos vom Himmel aufs Meer und auf den Boden.
Da! Eine kleine Krabbe, wohl mit Algen und anderem Treibgut an Land gespült worden, krabbelt unter schaumbedecktem Grün hervor. Kamera gespannt, bis an die Nahgrenze des Objektivs heran an das Krabbeltier und abgedrückt. Sie scheint ein Model unter den Krabben zu sein, denn sie bleibt stehen und ermöglicht mir einen Objektivwechsel. Also Weitwinkelobjektiv drauf und noch näher ran. Klick! Und noch einmal Klick! Merci, Madame!
Eine kleine Sandverwehung erregt meine Aufmerksamkeit nach wenige Schritten. Ein Büschel Seegras lugt daraus hervor, winkt mir zu und scheint zu flüstern: „Heh, fotografiere mich, vielleicht bin ich schon bald nicht mehr!“ Objektiv passt. Also hin. Klick!
Ich stapfe noch eine ganze Weile weiter am Strand lang und meine Augen füllen sich mit Tränen. Der auflandige Wind ist doch recht kalt und beißt in meinem Gesicht. Und er wird heftiger. Ich bleibe stehen, die Hände in den Anoraktaschen, und schaue hinüber zur Insel Baltrum, die sich schemenhaft im Dunst zu verstecken beginnt. Objektivwechsel auf Normalbrennweite, das Motiv läuft mir nicht weg. Den optimalen Moment abgepasst, wo der Dunst zwar deutlich ist, aber die Insel noch nicht gänzlich einpackt, dann der Druck auf den Auslöser. Klick!
Ich höre jemanden pfeifen während ich zurück gehe zu meinem Fahrzeug. Heh, das bin ja ich. Das ist ein guter Stimmungsindikator, das Pfeifen. Wenn ich pfeife, habe ich gute Laune. Ich steige, am Parkplatz angekommen, in mein Auto und fahre recht gut gelaunt wieder heim. Ich freue mich schon darauf, wenn der Film voll ist, ihn zu entwickeln und die schönsten Bilder in der Dunkelkammer auf Papier zu bannen.
Analoge Fotografie bedeutet mir sehr viel:
Sie schult mein Auge darauf auch Details, Kleinigkeiten zu sehen und zu deuten.
Sie verschafft mir mehrfach Freude, nämlich beim Fotografieren, beim Entwickeln des Films und beim Vergrößern in der Dunkelkammer.
Sie treibt mich nach draußen. Die Motive kommen nicht an mir vorbei, während ich im Sessel sitze.
Und, wie man sieht, sie kann meine Stimmung positiv beeinflussen.
Mal sehen, wohin es morgen geht.
Ernst Kluger