Der Mittelformat-Würfel aus Kiew · Teil 1

Von Marwan El-Mozayen

Für viele Fotografen strahlt das 6×6-Mittelformat immer noch einen besonderen Reiz aus. Begründet wurde dies sicher auch durch die beiden Hersteller Franke & Heidecke mit der berühmten zweiäugigen Rolleiflex und Hasselblad mit der gleichnamigen, modularen System-Spiegelreflexkamera.

Die Hasselblad zeichnet sich besonders dadurch aus, dass sich an ihr neben den Objektiven auch das Filmrückteil wechseln lässt. Dies ermöglicht es, während einer Aufnahmeserie mit nur einem Gehäuse unterschiedliche Filmmaterialien einzusetzen. Sogar die Verwendung digitaler Rückteile ist möglich. Außerdem kann der Fotograf je nach Bedarf den passenden Lichtschacht-, Lupen- oder Prismensucher verwenden.

Diese besondere Flexibilität und die hohe optische und mechanische Qualität der Hasselblad sind bis heute einige der Gründe, warum diese Kameras bis heute bei vielen Profis und Amateuren so beliebt sind. Dank der Popularität und der langen Bauzeit ist das Angebot auf dem Gebrauchtmarkt sehr gut. Auch hinsichtlich des Services gibt es bis auf wenige Ausnahmen keine Probleme.

Deswegen sind diese Kameras durchaus eine Empfehlung für den 6×6-Einsteiger. Lange waren diese Geräte für einen günstigen (verglichen mit dem Neupreis) dreistelligen Eurobetrag auf dem Gebrauchtmarkt erhältlich. Durch die aktuell verstärkte Nachfrage kam es zu einer Konsolidierung der Gebrauchtpreise. Der interessierte Fotograf muss nun deutlich tiefer in die Tasche greifen, wenn er sich eine der begehrten schwedischen Kameras zulegen möchte.

Das Kiev-System bietet ein preisgünstiges und umfangreiches Objektivangebot vom 30mm-Fischauge bis hin zum leistungsstarken Teleobjektiv. Grund genug, sich einmal Gedanken über Alternativen zu machen – vor allem, wenn die finanziellen Mittel dem Anwender nur einen begrenzten Spielraum erlauben.

Kiev/Kiew 88
Kiev/Kiew 88

Wer sich etwas intensiver mit der Thematik Hasselblad beschäftigt, wird früher oder später auf die Kameras des 1764 gegründeten ukrainischen Herstelles Завод Арсенал/Sawod Arsenal aus Kiew aufmerksam. Vom Ende des 2. Weltkrieges bis 2009 produzierte der Hersteller neben optischen und optoelektronischen Geräten für die zivile und militärische Luft- und Raumfahrt auch eine Vielzahl unterschiedlichster Kameras. Schon zu Zeiten des Eisernen Vorhangs fanden diese auch in westlichen Ländern Verbreitung.

Besonders das Modell Kiev88 überrascht den Betrachter durch eine frappierende Ähnlichkeit zu den Hasselblad-Modellen. Schnell kommt die die Vermutung auf, dass die Konstrukteure der Ukrainerin wohl nicht ganz zufällig Viktor Hasselblads modulares Würfelkonzept ein zweites Mal erfunden haben.

Was verbirgt sich nun unter dieser Hülle? Und was ist von einer solchen Kamera zu halten? Diese Fragen werden oft in den sozialen Medien und unzähligen Internetforen teilweise heftig diskutiert, leider oft mit vielen Mythen und auch Fehlinformationen. Um hier etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen, begeben wir uns gedanklich kurz zurück in den Oktober 1948.

Eine neue Kameragattung wird vorgestellt

Der schwedische Kamerahersteller Hasselblad präsentiert in diesem Jahr zum ersten Mal in New York eine vollkommen neuartige und revolutionäre, modulare 6×6-Mittelformatkamera, die Hasselblad 1600F. Der richtungsweisende Entwurf zu dieser Kamera stammte vom schwedischen Industriedesigner Sixten Sason, der zuvor schon für den Flugzeughersteller Saab den Ur-Saab-PKW entworfen hatte. Zum ersten Mal konnten Fotografen nun bei einer einäugigen Kamera jederzeit die Objektive, den Sucher und das Filmmagazin austauschen. Anders als die späteren Hasselblads der 500er Serie hatte dieser neuartige Fotoapparat keinen Zentralverschluss, sondern einen Titanschlitzverschluss. Dieser ermöglichte eine sensationell kurze Belichtungszeit von 1/1600 Sekunde.

Die Schattenseite

Diese Kamera hatte alles, was sich professionelle Fotografen damals von einer Mittelformatkamera wünschten. Leider war die Kamera-Mechanik nicht ganz ausgereift. Es kam zu erheblichen technischen Problemen. Noch in der laufenden Produktion wurden bereits umfangreiche Verbesserungen eingebracht. Wer heute eine Hasselblad 1600F restauriert, wird schnell feststellen, dass selten zwei Modelle wirklich gleich sind.

Die Verbesserung

Schon nach 2.895 Exemplaren endete die Produktion, und Hasselblad stellte 1952 die technisch überarbeitete 1000F vor. Die kürzeste Verschlusszeit betrug nur noch 1/1000s. Im Inneren wurde die gesamte Konstruktion in vielen entscheidenden Details grundlegend verändert.

Bis 1957 wurde die Hasselblad 1000F 10.396 mal gebaut. Sie war die erste erfolgreiche Kamera des schwedischen Herstellers in diesem Segment. Dann begann 1956 mit der Einführung der Hasselblad 500C eine neue Ära von Kameras mit im Objektiv verbautem Zentralverschluss. Die Objektive der 1600 und der 1000F waren aufgrund ihres sogenannten Steckbajonetts und des fehlenden Zentralverschlusses nicht kompatibel zu der späteren V-Serie. Lediglich die Sucher und Magazine ließen sich weiter verwenden.

Die Entwicklung jenseits des Eisernen Vorhangs

Das besonders durchdachte Konzept der Hasselblad muss Anfang der 50er Jahre auch in der Kameraindustrie der ehemaligen UdSSR Interesse an einer eigenen, sowjetischen 6×6-Mittelformatkamera geweckt haben. Zu den genauen Umständen der Entstehung lässt sich in den zugänglichen Quellen nichts oder nur Widersprüchliches finden. Sicher belegt ist nur, dass Hasselblad von Beginn an Kameras in die Sowjetunion exportiert hatte.

Ab 1948 konnte der sowietische Kamerahersteller Arsenal Kiev auf die als Reperationszahlung komplett aus Deutschland überführten Contax-Werkzeugmaschinen und Produktionsanlagen zugreifen. Theoretisch waren also die technischen Voraussetzungen für das ambitionierte Vorhaben, den erfolgreichen Hasselblad-Entwurf zu kopieren, gegeben.

Салют – Gruß

1957 erschien die Saljut (Салют) 1a. In Aussehen, Abmessungen, Bedienung und Funktion war diese neue Kamera auf den ersten Blick kaum von einer Hasselblad 1600F zu unterscheiden. In der endgültigen technischen Ausführung und in Details der Funktionen gab es jedoch wesentliche Unterschiede. Offensichtlich hatten die sowjetischen Ingenieure die Hasselblad 1600F sehr genau untersucht, einige der Kinderkrankheiten erkannt und diese in der eigenen vermieden.

Die Unterschiede zum Vorbild

Die maximale Verschlusszeit der Saljut 1a lag bei 1/1500 s. Auch hier kam ein Schlitzverschluss zum Einsatz. Oft wird fälschlich behauptet, es handele sich um einfaches Kupferblech. In Wirklichkeit kam jedoch eine hochfeste Kupfer-Beryllium-Legierung zum Einsatz, die sich dafür genauso eignet wie das von Hasselblad verwendete Titanblech. Auch in der mechanischen Konstruktion, vor allem in der Verschlussmechanik, wurden Veränderungen gegenüber dem Original vorgenommen. Das kam der Praxistauglichkeit zugute. Eine der wichtigsten Punkte ist der Einsatz einer Verschlussbremse. Dass dieser bei den Hasselbladmodellen fehlte, war ein Hauptgrund für die gefürchteten Verschluss-Blockaden bei den Hasselbladmodellen.

Gegenüber dem Hasselbald Original wurde ein zusätzlich ein Selbstauslöser im Gehäuse hinzugefügt. Um für diesen genügend Bauraum zu schaffen, musste die Gehäuseform auf der rechten Seite im Bereich des Aufzugrads vergrößert werden.

Geöffnete Kameragehäuse
Das Innenleben beider Kameras im direkten Vergleich: Hasselblad (links), Saljut (rechts).

Praktische Verbesserungen gegenüber dem schwedischen Original

Das schwedische Vorbild besaß keine Springblende. Um die Schärfe bei einem hellen Sucherbild einfacher einstellen zu können, wird die Blende manuell geöffnet und vor jeder Auslösung auf einen voreingestellten Wert geschlossen. Eben dieses erneute Schließen der Blende kann leicht vergessen werden. Im Gegensatz zu den bei Hasselblad verwendeten Kodak- und Carl-Zeiss-Linsen sind die Saljut-Objektive mit einer Vorspannblende ausgestattet, die bei Auslösen der Kamera mittels Federkraft die Blendenlamellen schließt. Fehlbelichtungen durch eine versehentlich nicht geschlossene Blende wurden so elegant umgangen; dies kann als eine wirkliche Verbesserung der Handhabung angesehen werden.

Detailaufnahme der Blendensteuerungen
Die Blendensteuerung der Saljut war eine praktische Verbesserung gegenüber dem schwedischen Original.

Versionen

Die Saljut der ersten Generation kostete neu etwa sechs Monatsgehälter eines sowjetischen Arbeiters und war daher ein wirklicher Luxusartikel.

Im Zeitraum von 1957–1972 wurde dieses Modell – neben einigen Sonderanfertigungen für die Raumfahrt – in mindestens vier Versionen mit jeweils zwei Derivaten angeboten.

Typ 1a

  • Bauzeit 1957–59
  • Verschlusszeit: 1/2–1/1500 und B
  • Selbstauslöser (Aktivierung durch den Kameraauslöser)

Typ 1b

  • Bauzeit 1959-63
  • Verschlusszeit: 1/2–1/1500 und B
  • Selbstauslöser (Aktivierung durch einen zusätzlichen Knopf unterhalb des Aufzugsknopfes)
Eine Saljut 1b im Sucher der Hasselblad 1000F. Auch wenn es häufig behauptet wird, ist die 1000F nicht das Vorbild zur sowietischen Kopie des schwedischen Vorbilds.

Typ 2

  • Bauzeit 1958–65
  • Verschlusszeit: 1/2–1/1500 und B
  • Ohne Selbstauslöser

Typ 3

Mit der Einführung der 3. Generation ab 1965 wurde die 1/1000s als kürzeste Verschlusszeit gewählt. Ab diesem Zeitpunkt begann auch der Export ins westliche Ausland. Distributor in Großbritannien war dabei in erster Linie T.O.E – dort wurde die Saljut Typ 3 als Zenith 80 angeboten. In Frankreich war die Kamera unter dem Namen Vitoflex und in den USA als Souyuz erhältlich. In Deutschland vermarktete Foto Quelle die Kamera als REVUE 6×6.

Typ 3a

  • Bauzeit 1965–74
  • Verschlusszeit: 1/2–1/1000 und B
  • Schwarzes Zeitenrad

Typ 3b

  • Mit neuem Label Salyut in lateinischen Schriftzeichen und der Markierung „Made in USSR“

Für einige Märkte, die aufgrund politischer Spannungen mit der UdSSR Vorbehalte gegenüber Produkte aus der UdSSR hatten, wurden sogenannte „No Name“-Modelle angeboten. Lediglich Brennweite, Blendenwerte, Verschlusszeiten und Seriennummern waren eingraviert, jedoch keine weiteren Firmenlogos, Typenbezeichnungen oder sonstige Hinweise, die Rückschlüsse auf die Herkunft zuließen.

Typ 4

  • Keine Bezeichnunge eingraviert
  • reines Exportmodell

Saljut-S (Салют-C)

Nach etwa 50.000 produzierten Einheiten wurde die Saljut ab 1970 durch die Saljut-S ( Салют-C) ersetzt. Der wesentliche Unterschied zu den Vorgängermodellen war das Vorhandensein einer vollautomatischen Springblende. Das Bajonett wurde unverändert übernommen und erlaubte den ersten hybriden Saljuts sowohl die Verwendung der alten als auch der neuen Objektive. Ab ca. 1972 fiel diese Besonderheit dann gänzlich weg. Das bis dahin silberne Standardobjektiv 2,8/80mm Industar wurde durch das jetzt schwarz lackierte 2,8/90mm Vega ersetzt.

Kamera Saljut S
Die Saljut wurde ab 1970 durch die Saljut-S (Салют-C) ersetzt.

Von 1975 bis 1981 wurde die Bezeichnung Saljut mehr und mehr durch Kiev 80 ersetzt. Technisch unterscheiden sich diese Kameras nicht voneinander.

KIEV 88 TTL

Mit der Kiev88 wurden 1984 einige kleinere Modifikationen eingeführt. Die Konstrukteure verzichteten jetzt auf den Wahlregler für Blitzlampen oder X-Synchronisierung. Zum ersten Mal erhielt die Kamera einen Blitzschuh mit Mittenkontakt. Eine neue hellere Mattscheibe rundete die Neuerungen ab.

Kiev88TTL-Set
Die Kiev88 wurde in den Exportmärkten als sehr umfangreiches Set aus Kamera, 80mm-Objektiv, zwei Magazinen und Filtern, Lichtschacht- und TTL-Prismensucher sowie einer Ledertasche geliefert.

Der neue Prismensucher konnte nun dank eingebauter CDS-Zellen für die integrale Belichtungsmessung eingesetzt werden. Er wurde im TTL-Set zusammen mit der Kamera und zwei Magazinen angeboten. Mit der Einführung der Kiev 88 TTL wurden nach und nach eine Reihe neuer, mehrfach vergüteter Objektive vorgestellt. Je nach Zielmarkt trug die Kamera den kyrillischen Киев-88 oder den „lateinischen“ KIEV-88-Schriftzug. In den USA wurde diese Kamera auch unter dem Namen CAMBRON angeboten. Der westdeutsche Importeur bot die Kamera als Set offiziell für ca. 2000,–DM an.

Die weitere Entwicklung der Kiev 88 beschreibt der zweite Teil des Artikels am 6. März 2020, denn noch bis weit in die 90er Jahre hinein wurde der „Mittelformat-Würfel“ weiterentwickelt.

Der Artikel erschien erstmals in der PhotoKlassik IV/2018.