„R“ im Schatten der „M“ – Teil 1

Auf die Frage eines am Leica R-System interessierten Forenten in einem der unzähligen Internetforen fand ich kürzlich folgende Antwort – Zitat:

„*hüstel* Du weißt aber schon, dass die (Leica) R4 eine XD-7 (Minolta) ist?“

Ähnliche Aussagen findet man in den fotografischen sozialen Netzwerken weltweit.

Konkret haben die Verfasser dieser Antworten dann aber selten wirklich Informatives zu den beiden erwähnten Kameras beizutragen. Trotzdem erlangen sie große Aufmerksamkeit. Und steht diese Aussage erst einmal im Raum, wird sie schnell stammtischtauglich.

Stimmt es denn wirklich? War eine der teuersten und renommiertesten Spiegelreflexkameras nur ein Etikettenschwindel? Wir haben die Geschichte ein wenig hinterfragt und auch mit Technikern gesprochen.

Wenn man von Leica-Kameras spricht, denkt man automatisch an zwei Dinge. Zum einen an die Erfindung der Kleinbildfotografie durch den Leica-Mitarbeiter Oskar Barnac und an Messsucherkameras wie etwa die legendäre M3.

Kein Hersteller steht mehr für eine Kameraklasse als das Unternehmen aus Wetzlar. Jahrzehntelang haben namhafte Fotografen die Produkte aus dem kleinen mittelhessischen Städtchen überall auf der Welt und unter nahezu allen Bedingungen eingesetzt. Kameras von Leica waren technisch außergewöhnlich zuverlässig, leicht und leise. Der Besitzer einer solchen Kamera konnte darüber hinaus auf die besten Objektive aus dem gleichen Hause zurückgreifen. Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Alberto Korda, Nick Út – um nur einige der Bekanntesten zu nennen. Sie schufen mit einer Leica fotografische Ikonen des 20. Jahrhunderts. Eine Leica war in den 50ger und frühen 60er Jahren quasi das Ideal einer perfekten Kleinbildkamera. Damit waren sie auch der Maßstab, an dem sich weltweit die Konkurrenz messen musste. Und auch heute noch werden Messucherkameras von Leica gefertigt.

Doch schon Ende der 50er Jahre setzte ein Paradigmenwechsel ein. Gerade japanische Hersteller beendeten ihre aussichtslosen Versuche, mit eigenen Modellen, die stark von deutschen Messsucherkameras inspiriert waren, der Leica M ernsthaft den Markt streitig zu machen.

Hochmut kommt vor dem Fall

Weltweit eroberten plötzlich Spiegelreflexkameras nach und nach die Märkte. Dabei waren 35mm-SLRs keine japanische Erfindung. Die erste in Serie gefertigte Kleinbild-Spiegelreflexkamera hatte bereits 1936 Ihagee aus Dresden auf den Markt gebracht. Dennoch läuteten die Asahiflex von Pentax (1952), Minoltas SR-2 (1958) und Nikons F (1959) das Ende der deutschen Vorherrschaft im Bereich der Kameraherstellung ein. Nur die ostdeutschen Hersteller hatten die Technik der ersten Dresdner Spiegelreflexkamera kontinuierlich und innovativ weitergeführt. Sie spielten aber auf dem internationalen Markt keine entscheidende Rolle. Westdeutsche Firmen hingegen reagierten nur unzureichend auf die neue Herausforderungen. Zwar entwickelten sie technisch interessante Spiegelreflexkameras, diese waren aber oft nur halbherzig durchdacht. Und sie waren erheblich teurer als die technisch und qualitativ überlegenen Erfolgsmodelle aus Japan.

In der Folge verschwand ein westdeutsches Kameraunternehmen nach dem anderen. Es sollte noch bis 1964 dauern – also 28 Jahre nach der Vorstellung der Ihagee Kine Exakta und ganze 12 Jahre nach der Pentax –, bis auch die Wetzlarer mit der Leicaflex der Öffentlichkeit ihre erste Spiegelreflexkamera vorstellen konnten. Solange war man bei Leica von der absoluten Überlegenheit des Messsuchersystems und der eigenen Produkte überzeugt.

Die Leicaflex

Dieser erste Versuch mit der kürzesten Verschlusszeit von 1/2000s hätte durchaus als gelungen bezeichnet werden können, wäre diese neue Kamera nur 10 Jahre früher entwickelt worden. Alle weiteren technischen Daten dieser Kamera waren leider wenig spektakulär und teilweise schon zum Zeitpunkt ihres Erscheinens veraltet, etwa die Belichtungsmessung außerhalb des Strahlengangs. In den kommenden Jahren konnte die Leicaflex zwar mit der SL und der SL 2 kontinuierlich verbessert werden. Dennoch zeigten auch die verbesserten Modelle den von einstigen Erfolgen und Ruhm verwöhnten Hessen, wo ihre Grenzen lagen.

Während die Konkurrenz aus Fernost in ihren Produkten schon die ersten Schritte in Richtung elektronischer Steuerung machte, konnte man auf diesem Sektor bei Leica nicht auf derlei Erfahrungen zurückgreifen. Gleichzeitig wuchs das Lohnniveau in Deutschland immer weiter. Trotz ihrer technischen Qualitäten war eine komplexe Kamerakonstruktion wie die Leicaflex einfach nicht für eine rentable Fertigung geeignet. Leicaflex-Gehäuse mussten teilweise mit Verlust verkauft werden. Gewinne wurden rein über die Objektivpreise erzielt.

Wege aus der Krise

Anfang der 70er Jahre stand man bei Leica dann endgültig am Scheideweg. Auch dem letzten Verantwortlichen war bewusst geworden, dass man kurz vor dem Aus war. So fällte die Geschäftsleitung quasi in letzter Minute eine weitreichende Entscheidung für eine komplette Neuausrichtung und Erneuerung des Unternehmens. Durch eine Kooperation mit Minolta aus Osaka sollte dieses Ziel erreicht werden. Die Zusammenarbeit war durchaus erfolgreich; sie dauerte über ein Vierteljahrhundert an – und war Leicas Rettung.

Minolta sollte dabei Leica in die Lage versetzen, wieder den Anschluss an eine effektivere Fertigung und auch zeitgemäße Technologien zu erlangen. Zusätzlich verlagerte man einen Teil der Produktion nach Portugal, um Lohnkosten einzusparen.

Aber Leica trat nicht als Bittsteller auf. Die Zusammenarbeit erfolgte auf Augenhöhe, denn auch die Wetzlarer hatten zu dieser Kooperation einiges beizutragen. So nahmen sie indirekt entscheidenden Einfluss auf Minoltas erfolgreiches Kameraprogramm in den 70er und frühen 80er Jahren.

Das Erfolgsrezept

Ein besonders wichtiges Bauteil für eine Kamera ist der Verschluss. Für eine neue Generation von Spiegelreflexkameras gelang es dem Leica-Ingenieur Peter Loseries, einen Metalllamellen-Schlitzverschluss zu entwickeln. Dieser konnte als separates, getestetes und vorjustiertes Modul schnell und einfach an das Spiegelgehäuse anmontiert werden. Das Verschlussmodul war besonders klein und ermöglichte den Bau einer kompakten Spiegelreflexkamera. Zudem ließ er sich in Großserie zu niedrigen Stückkosten fertigen. Auch bei Minolta gab es Bestrebungen, den bis dahin hauptsächlich verwendeten Tuchschlitzverschluss in zukünftigen Kameras zu ersetzen. Parallel dazu erschien 1972 Minoltas Profikamera XM mit einer für die damalige Zeit extrem fortschrittlichen Verschluss-Steuerungselektronik.

Die Leica R3 wird geboren

Die Kombination dieser beiden innovativen elektronischen und mechanischen Zutaten führte in relativ kurzer Zeit zur gemeinsamen Entwicklung der Minolta XE-1 und ihrer Schwesterkamera Leica R3. Diese neue Leica verfügte über das schon von der Leicaflex bekannte Bajonett sowie das gleiche Auflagemaß, so dass die alten Leica-Objektive weiter verwendet werden konnten. Als erste Leica SLR überhaupt bot sie zudem eine Zeitautomatik mit elektronisch gebildeten Zeiten sowie zusätzlich die 1/100s als mechanisch gesteuerte, batterieunabhängige Zeit. Der für beide Kameras verwendete neue, sogenannte CLS-Verschluß wurde von Copal in Japan nur für Minolta und Leica gefertigt.

Dass eine Zusammenarbeit eines deutschen und eines japanischen Unternehmens nicht nur positiv aufgenommen wird, kann man bis heute in den Diskussionen in den unterschiedlichsten Foren verfolgen. Nicht selten wird der R3 unterstellt, dass es sich dabei lediglich um eine extrem teure, umetikettierte Minolta XE-1 handelt, die an sich schon damals in der Premium-Preisregion angesiedelt war. Die Verwandtschaft der beiden Kameras lässt sich aufgrund der äußeren Form nicht verleugnen. Auch aus Kostengründen kamen viele Gleichteile zum Einsatz, hauptsächlich bei der Filmtransportmechanik. Entscheidende Unterschiede finden sich jedoch in der Konstruktion von Spiegelkasten, Schwingspiegel und der damit verbundenen Kopplung zum Verschluss. Darüberhinaus ist das wichtigste Alleinstellungsmerkmal der R3 die umschaltbare Belichtungsmethode von Selektiv- auf Integralmessung. Für die ab 1978 angebotene R3 MOT wurde zusätzlich ein Winder mit Handgriff entwickelt. Typisch für Leica-Kameras war ab 1976 die spezielle Schwarzverchromung des Metallgehäuses. Auch nach Jahrzehnten weisen stark beanspruchte Leicas nur einen geringen Abrieb dieser besonders widerstandsfähigen Oberflächenbeschichtung auf.

Nicht nur das Äußere der Kamera erwies sich als besonders langlebig. Auch die Qualität der R3 konnte im Fotografenalltag an die von Leica bekannte Zuverlässigkeit anknüpfen. Die Verkaufszahlen von 1976–1979 waren zudem auch höher als angenommen. Deswegen gilt diese erste neue Leica als erfolgreicher Neubeginn und Wegbereiterin des Erfolgs des gesamten späteren R Systems.

Der große Wurf

Minolta stellte bereits 1977 die XD-7 vor. Diese war dank des CLS-Verschlusses noch kompakter und handlicher als die XE-1 und folgte darin ganz dem Zeitgeist. Drüberhinaus war sie die erste Kamera der Welt, die neben der manuellen Belichtungseinstellung sowohl über eine Zeit- als auch eine Blendenautomatik verfügte. Zusätzlich zu der an sich schon spektakulären Multiautomatik bot diese Kamera mit der neuen sogenannten Acute Mate eine völlig neue Generation von außergewöhnlich hellen Mattscheiben, deren Technik später auch in Hasselblad-Mittelformatkameras zum Einsatz kam.

Ein weiterer Pluspunkt war die eingeschränkte Nutzbarkeit der Kamera ohne Batterie. Dies wurde durch zwei zusätzliche, voll mechanische Verschlussantriebe erreicht. Zum ersten Mal wurde auch Leicas patentierte Technik der Schwarzverchromung auch bei einer japanischen Kamera angewandt.

Weiter mit Teil 2 am nächsten Sonntag!

Erschienen in der PhotoKlassik
Autor: Marwan El-Mozayen